Für einen angemessenen Umgang mit Schmerzpatienten ist ein besseres Verständnis von
Schmerz essenziell, beginnend beim Wesen und bei den Charakteristika von Schmerz in
der Sprache über kulturabhängige Vorstellungen zu den Ursachen von Schmerz bis hin
zu Definitionen.
Mit der Erhöhung der Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten, zumindest bis zur
COVID-19-Pandemie, haben Zahl und Multimorbidität der Betroffenen und damit die Komplexität
von Schmerzsyndromen weltweit zugenommen. Trotz internationaler, multidisziplinärer
Schmerzforschung und Anstrengungen um eine bessere Behandlung der Patienten kam es
zu mehr Beeinträchtigungen durch Schmerzzustände.
Die Neufassung des Genfer Gelöbnisses im Jahr 2017 verpflichtet Ärzte, ihr Leben in
den Dienst der Menschlichkeit zu stellen und das Wohlergehen ihrer Patienten anzustreben
[1]. Die Wiederherstellung und Förderung der Lebensqualität gehört "zu den Kernaufgaben
der Medizin nur insoweit, als diese einen Gesundheitsbezug aufweist" [2]. Die angemessene
Therapie und Prävention von Schmerz auf wissenschaftlicher Grundlage setzt die systematische
Abklärung voraus.
Schmerz im sprachlichen Ausdruck
Schmerz ist kein homogenes Phänomen, vielmehr eine "große Entität, die es verdient,
selbst analysiert zu werden" [3], eine "Einheit in der Vielheit" [4] mit vielen Aspekten
und Bezügen. Die Abstraktion der zahlreichen Erscheinungsformen auf Begriffe geht
mit einer starken Vereinfachung einher. In indogermanischen Sprachen gibt es mehrere
Möglichkeiten, Schmerz auszudrücken: So ist im Wort versehrt die Sprachwurzel "sai",
was auch Wunde bedeutet, enthalten. Weiterhin heißt "guel" "stechender Schmerz" und
"Qual". Schließlich wird in der Sprachwurzel "kormok" auch der seelische Schmerz zum
Ausdruck gebracht, so in Harm [4]. Das neuhochdeutsche Wort "Schmerz" ist zurückzuführen
auf eine indogermanische Wurzel "smer", was so viel bedeutet wie "stechen, beißen".
Dies ist darüber hinaus im Lateinischen als "mordere" erhalten [5], was mit beißen
übersetzt wird, und im Englischen im Wort "smart", d. h. scharf, übertragen schneidig.
In germanischen und romanischen Sprachen werden Schmerzen nicht nur für körperliche
Geschehnisse mit Warn- und Schädigungscharakter verwendet, sondern auch für leidvolle
Erlebnisse wie Enttäuschung, Verlust und Reue sowie für Gefühle wie Trauer, Kummer,
Heimweh, Scham und Verletzung des Rechtsgefühls. Schmerz ist demnach ebenso als Ausdruck
einer seelisch-geistigen Funktion angelegt. Ferdinand Sauerbruch (1875-1951) und Hans
Wenke (1903-1971) verwiesen in ihrem ärztlich-philosophischen Werk auf Bildhaftigkeit
und Analogien von Bezeichnungen, z. B. eines "stechenden, brennenden, reißenden, dumpfen
oder hellen Schmerzes", die das Erlebnisphänomen und die Vieldeutigkeit des Schmerzes
nur unzulänglich treffen würden [4].
Schon in der griechischen Antike war der Begriff "Schmerz" ein Zeichen mit verschiedenen
Bedeutungen für ein Einzelsymptom, einen Symptomenkomplex oder ein metaphorisches
Symbol. Im Corpus Hippocraticum wurden die Substantive "odyne" und "algos" mit ihrem
Bezug jeweils auf körperlichen und seelischen Schmerz sehr häufig aufgeführt [6].
Bis zur Gegenwart haben sie sich in der Fachsprache gehalten, so in Achillodynie oder
Glossodynie bzw. in Cephalgie oder Myalgie. Im Griechischen bezieht sich "algein"
auf die "subjektive Seite des Wahrnehmens, Empfindens und Leidens" [7]. Weiterhin
ist der Begriff "ponos" oft verwendet worden, der zwischen Beschwerde und Krankheit
nicht differenziert. Mit dem lateinischen Begriff "poena" (Strafe) hängen das englische
Wort "pain" und der deutsche Begriff "Pein" zusammen. Damit kommen uralte, ursächliche
Vorstellungen über Verschulden bzw. Sünde und Sühne zum Ausdruck.
Verbale Schmerzdarstellung
Beim Studium der "language of pain", der verbalen Schmerzdarstellung, sammelten R.
Melzack und W.S. Torgerson 102 Adjektive, mit denen Schmerz (in der englischen Sprache)
beschrieben wird. Sie kategorisierten diese in drei Hauptklassen nach sensorischen,
affektiven und evaluativen Aspekten. Es ergaben sich Hinweise auf einen inneren Zusammenhang,
dass die Intensität des Schmerzerleidens die Wahl der verwendeten Adjektive mitbestimmt
[8]. Carole Anne Bailey und Park O. Davidson bestätigten diese Vermutung mithilfe
von Interkorrelationen: Sie legten ihren Versuchspersonen 39 Adjektive der Schmerzbeschreibung
zur Beurteilung vor und konnten sechs Faktoren isolieren. Dabei ergab sich eine engere
Beziehung der Schmerzintensität zu affektiv-evaluativen Affekten, wie "qualvoll" oder
"unerträglich", als zu sensorischen Begriffen, wie "kneifend" oder "brennend" [9].
Hermann Schmitz las aus den Adjektiven "bohrend, stechend, reißend, ziehend, drückend,
zerrend, kneifend, schneidend" die Dynamik heraus, die dem Schmerz anhaftet, sowie
zeitliche Rhythmen ("pochend, hämmernd, klopfend") und räumliche Veränderungen. Er
folgerte: "Schmerz ist also nicht ruhige Empfindung oder Gefühl, sondern etwas Dynamisches:
Ein gehemmter Drang, der gegen einen Widerstand vordringt und in der Auseinandersetzung
mit ihm einen Zustand kritischer, die Entladung bedürftiger Spannung herbeiführt"
[10]. Während beim physiologischen Schmerz die Reaktion weg von der Schadensquelle
erfolgt, ist es ein Charakteristikum pathologischen Schmerzes, dass diese Reaktionen
bzw. Handlungen gehemmt werden, in "machtloser Anstrengung" [11], die der körperlichen
Verletzung ihren pathischen Charakter gäbe. Allerdings können motorische Entladungen
wie das sich Krümmen oder Wälzen und paraverbale Entäußerungen wie Stöhnen, Jammern
und Schreien Schmerz erleichtern. Viele Schmerzpatienten schildern das Ausgeliefertsein
als besonders beeinträchtigend und beunruhigend.
Zum Wesen von Schmerz im historischen Rückblick
In der Antike wurden verschiedene Schmerzkonzeptionen entwickelt. Platon (427-347
v. Chr.) setzte Schmerz als seelische Qualität, später latinisiert als "passion" (Leidenschaft),
der Lust, dem Vergnügen gegenüber [12]. Dieser Dualismus wurde später von zahlreichen
Autoren vertiefend erörtert [13, 14]. Schmerz ordnete er einerseits dem Tastsinn zu,
also als Empfindung den Sinnen, und andererseits als affektive Qualität der Psyche.
Aristoteles (384-322 v. Chr.) erörterte eingehend die fünf klassischen Sinnesmodalitäten
Tastsinn, Gesicht, Gehör, Geruch und Geschmack. Schmerz rechnete er zum Tastsinn.
Menschliches Leben ohne Tastsinn mit Schmerz erachtete er nicht für möglich [15].
Aristoteles beschrieb erstmals den Gemeinsinn, das Sensorium commune [16].
Im Corpus Hippocraticum und auch bei Galenos von Pergamon (129-199) weist das berühmte,
latinisierte Diktum "divinum est opus sedare dolorem" ("Es ist göttlich, den Schmerz
zu lindern") [17], auf das große Problem des Schmerzes und seiner Linderung hin. Nozizeption
wurde auch als Ausgang von Leiden und Harm erkannt [16].
Schmerz als Schutzfunktion
Galen bezeichnete Schmerz als wichtiges Kriterium für die richtige Diagnose und empfahl,
die natürlichen Heilkräfte durch pflanzliche, mineralische und tierische Arzneimittel
zu unterstützen, wobei er sogar vor Überdosierung betäubender Mittel wie Alraunwurzel
und Bilsenkraut (bei starkem Schmerz) warnte [18]. Die Schutzfunktion des Schmerzes
wurde als "bellender Wachhund der Gesundheit" bezeichnet.
Die protektive Funktion des Schmerzes wurde also schon ansatzweise im Altertum erfasst
und überliefert. Im Mittelalter verwiesen Avicenna (980-1037) und Albertus Magnus
(um 1200-1280) auf die sensorische, nützliche Konzeption [16]. Otfrid Foerster (1873-1941)
bezeichnete Schmerz wiederholt als "Hüter und Wächter vor des Lebens Tür" [19].
Schmerztheorien
Phylogenetisch ist das Warnsystem Nozizeption und Schmerz älter als die Menschheit.
Als Bewusstseinsphänomen ist Schmerz den Empfindungen und/oder Emotionen zuzurechnen,
und bei den Patienten (lat. patiens = Leidender) liegt das subjektive Erleben und
Erleiden im Kern des Schmerzproblems. Ontogenetisch entwickeln sich die Strukturen
für Nozizeption und Schmerzerleben im zweiten Trimenon der Schwangerschaft, sodass
zuvor Schmerzerleiden des Embryos bzw. Feten nicht möglich sein dürfte, wohl jedoch
in den folgenden Monaten.
Abb. 1 repräsentiert das mechanistische Reiz-Reaktions-Schema von René Descartes (1596-1650),
das er nicht spezifisch für Schmerz, sondern allgemein für Empfindung verfasste [20].
In der Moderne standen sich die Spezifitätstheorie von M. von Frey [21] und die Intensitätstheorie
von Alfred Goldscheider [22] gegenüber. Im 20. Jahrhundert dominierte weiterhin das
sinnesphysiologische Paradigma mit den Modifikationen der Patterntheorie von D.C.
Sinclair [23] und G. Weddell [24], die Summationstheorie von B. Naunyn [25] und von
William Kenneth Livingston [26] und zuletzt die sogenannte Gate-Control-Theorie von
Ronald Melzack und Patrick D. Wall (1965) mit dem Titel "Pain mechanisms: A new theory.
A gate control system modulates sensory input from the skin before it evokes pain
perception and response" [27]. Daraus geht hervor, dass Schmerz peripheren Ursprungs
(Abb. 2) dabei gemeint ist, also keinesfalls die Gesamtheit von Schmerzerleben mit
möglichen Folgen.
Schmerzaspekte
Diese Theorien umfassen aber zahlreiche pathologische Gegebenheiten nicht, wie etwa
die schon dem Chirurgen Ambroise Paré (1510-1590) bekannten Schmerzen nach Amputationen
[29], für die Silas Weir Mitchell (1829-1914), Chirurg im amerikanischen Sezessionskrieg,
den Begriff Phantomschmerz prägte [30]. Postamputationsschmerzen zeigen auf, dass
zwischen der Ätiologie, also der primären Ursache (z. B. Verwundung oder Gefäßkrankheit)
und den nach der Amputation folgenden pathophysiologischen Prozessen zu differenzieren
ist, nicht zuletzt wegen der erforderlichen angemessenen Behandlung. Beim Ausgang
von den Phänomenen sind verschiedene Gesichtspunkte zu beachten (Schmerzaspekte).
Schmerzaspekte
sensorisch
emotional-affektiv
kognitiv-evaluativ
motivational
interaktionell über Ausdruck und Appell
Schmerz auch bei psychischen Störungen häufig
Nozizeption ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Voraussetzung für Schmerzempfinden
bzw. -erleiden, wie das aus häufig auftretenden Schmerzen bei psychischen Störungen
bzw. Erkrankungen auf psychiatrischem Gebiet ersichtlich ist. Depressive Störungen
gehen oft mit Schmerzerleben einher, bei etwa 60 % der Betroffenen [31, 32]. Psychogene
Schmerzzustände mit ihrem Ausgang von inneren und äußeren Konflikten sowie Persönlichkeitsstörungen
wurden vielfach beschrieben [33, 34]. Dabei ist die somatische Verursachung definitionsgemäß
auszuschließen, und in positiver Hinsicht sind Nachweise für intrapsychische und soziale
Störungen zu erbringen. Die qualitativ eigenartigen Zönästhesien bei Schizophrenie
oder schweren Depressionen [35] stellen aufgrund ihres quälenden Charakters und der
Unerklärlichkeit besonders gravierende Leidenszustände und Belastungen dar.
Unterscheidung von physiologischen und pathologischen Schmerzen
Physiologische Schmerzen, die im Zusammenhang mit Nozizeption auch experimentell untersucht
wurden, können nach Viktor von Weizsäcker (1886-1957) von pathologischen Schmerzen
differenziert werden. Er stellte der Schutzfunktion des physiologischen Schmerzes
die zerstörerische Kraft pathologischen Schmerzes gegenüber [36]. Während akute Schmerzerlebnisse
über das Reiz-Reaktions-Schema meist relativ einfach zu erklären sind, treten bei
komplexen Syndromen wie Fibromyalgie multifaktorielle Entstehungs- und Chronifizierungsfaktoren
sowie modulierende Einflüsse und Folgeprozesse hinzu.
Bei den sogenannten Schmerzkrankheiten [3] steht Schmerzerleiden ganz im Vordergrund
der Patienten, die ärztliche Hilfe suchen, so etwa bei Clusterkopfschmerz oder bei
Migräne. Kritisch ist aber anzumerken, dass sogenannte Algopathien nicht in jedem
Fall mit Schmerz einhergehen, so gibt es z. B. Fälle von Migräne ohne Kopfschmerz,
wie die vestibuläre Migräne [37]. Und auch manche rheumatologische Krankheitsentitäten
treten - wider Erwarten - ohne Schmerz auf.
Zwar sind alle Schmerzzustände letztlich nicht einfach, doch können Schmerzerlebnisse,
die nach dem Reiz-Reaktions-Schema ablaufen, von komplexen intermittierenden wie Migräne
oder chronischen wie Fibromyalgiesyndromen prinzipiell unterschieden werden (Tab.
1) [31, 38].
Relativ einfach
Komplex
monokausal
multifaktoriell
eingleisig
multidimensional
Reiz-Reaktion
Interaktionen
linear
nonlinear
Kausalkette
Netzwerk
deterministisch
nondeterministisch
Schmerzdefinitionen
Ein Komitee der International Association for the Study of Pain (IASP) definierte
im Jahr 1979: "Schmerz ist ein unangenehmes sensorisches und emotionales Erlebnis,
verbunden mit aktuellen oder potentieller Gewebeschädigung oder in Begriff einer solchen
Schädigung beschrieben" [39]. 2020 veröffentlichte die IASP eine revidierte Definition
des Schmerzes als "ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen
oder potentiellen Gewebeschädigung einhergeht oder einer solchen ähnelt" [40]. Darin
ist der Tatsache Rechnung getragen, dass im frühen oder vorgeburtlichen Alter oder
bei fortgeschrittenen Demenzen eine Mitteilung nicht immer möglich ist, zumindest
nicht in sprachlicher Form. Sechs Schlüsselanmerkungen wurden hinzugefügt [40]:
Schmerz ist immer ein persönliches Erlebnis ("experience"), das in verschiedenem Maß
durch biologische, psychologische und soziale Faktoren beeinflusst wird.
Schmerz und Nozizeption sind verschiedene Phänomene. Schmerz kann nicht allein aus
der Aktivität sensorischer Neurone abgeleitet werden.
Individuen lernen das Schmerzkonzept durch ihre Lebenserfahrungen.
Der Bericht einer Person über ein Schmerzerlebnis sollte respektiert werden.
Obwohl Schmerz gewöhnlich einer Anpassungsfunktion dient, kann er ungünstige Wirkungen
auf die Funktion sowie auf das soziale und psychische Wohlbefinden haben.
Die verbale Beschreibung ist nur eines von mehreren Verhaltensweisen, Schmerz auszudrücken:
Die Unfähigkeit zur Kommunikation schließt die Möglichkeit nicht aus, dass ein Mensch
oder ein Tier Schmerz erlebt.
Die Definition des chronischen Schmerzes als Leiden, das über die tatsächliche oder
antizipierte Heilungszeit (nach Schädigung) hinausgeht [17], wurde oft zitiert, doch
hat sich in den letzten Jahren das deskriptive Kriterium eines chronischen Schmerzes
von mindestens drei Monaten Dauer durchgesetzt.
www.springermedizin.de/schmerzmedizin
PD Dr. med. Roland Wörz, MA Medizinethik
Neurologie, Psychiatrie, Schmerzmedizin
Rieslingweg 9
76669 Bad Schönborn
woerz.roland@t-online.de
Dr. med. Dipl. Lic. Psych. Johannes Horlemann
Allgemeinmedizin
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V.
Regionales Schmerzzentrum Kevelaer
Grünstr. 25
47625 Kevelaer
johannes.horlemann@dgschmerzmedizin.de
Dr. med. Gerhard H.H. Müller-Schwefe
Allgemeinmedizin, Anästhesie
Ehrenpräsident Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V.
Schmerz- und Palliativzentrum Göppingen
Schillerplatz 8/1
73033 Göppingen
info@mueller-schwefe.com
Teil 2 in der nächsten Ausgabe
In "Schmerzmedizin" Ausgabe 4/2022 lesen Sie die Fortführung zu diesem Beitrag:
Wörz R, Horlemann J, Müller-Schwefe GHH. Vielseitige Bedeutung und zunehmende Wichtigkeit
des Schmerzes (Teil 2) - Auswirkungen, Chronifizierung, Epidemiologie, zeitgemäße
Diagnostik
Supplementary Information