Bernd Fitzenberger (* 14. Mai 1963 in Friedberg) hat in Konstanz Volkswirtschaftslehre
und Mathematik (Diplom in VWL 1987, Vordiplom in Mathematik 1989) und an der Universität
Stanford Statistik (Master 1992) studiert, 1993 in Stanford in Ökonometrie promoviert
und sich 1998 in Konstanz mit einer Schrift in der empirischen Arbeitsmarktforschung
habilitiert. Im gleichen Jahr wurde er als Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere
Sozialpolitik an die TU Dresden berufen. Ein Jahr später wechselte er auf einen Lehrstuhl
Volkswirtschaftslehre, insbesondere Ökonometrie an der Universität Mannheim, von dort
im Jahre 2004 auf einen Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Labor Economics
an der Goethe-Universität Frankfurt, im Jahr 2007 auf einen Lehrstuhl für Statistik
und Ökonometrie an der Universität Freiburg und im April 2015 auf einen Lehrstuhl
für Ökonometrie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihr vorläufiges Ende fand diese
beeindruckende Laufbahn mit der Übernahme des Direktorenpostens des Instituts für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im September 2019, verbunden mit einer Professur
für Quantitative Arbeitsökonomik an der Universität Erlangen Nürnberg.
Bernd Fitzenberger ist Research Fellow am Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit
(IZA) in Bonn, am CESifo in München und am Research Center for Education and the Labour
Market in Maastricht, sowie International Research Affiliate am Institute for Fiscal
Studies in London. Des Weiteren ist er Co-Editor der internationalen Zeitschrift Labour
Economics, Associate Editor der internationalen Zeitschrift Empirical Economics und
Mitglied im Herausgebergremium des Journals for Labour Market Research. Er koordinierte
verantwortlich das von 2014 bis 2022 laufende DFG-Forschungsschwerpunktprogramm „The
German Labor Market in a Globalized World: Challenges through Trade, Technology and
Demographics“ (SPP 1764) und ist Mitglied der Leopoldina (Sektion Ökonomik und Empirische
Sozialwissenschaften). Im Jahr 2020 erhielt er den Deutschen Wirtschaftspreis der
Joachim Herz Stiftung für das beste Forschungswerk eines etablierten Wissenschaftlers
zur Ökonomik der Arbeit.
Bernd Fitzenbergers Hauptforschungsgebiete sind Einkommens- und Lohnungleichheit,
Beschäftigungsentwicklung, Evaluation von Maßnahmen der Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik,
berufliche Bildung und Übergang von Schule zu Beruf, Beschäftigung von Müttern, Gewerkschaften
(Tarifbindung, Organisationsgrad, Lohnstrukturen und Beschäftigung), Evaluationsmethoden
und Methoden der Quantilsregression. Die Mitglieder der Deutschen Statistischen Gesellschaft
kennen ihn auch als Vertreter der Statistik und Ökonometrie im Fachkollegium Wirtschaftswissenschaften
der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Fragen stellte Walter Krämer. (Abb. 1).
Herr Fitzenberger, Sie haben Ihren Doktortitel in den USA erworben und dazu auch noch
an einem der berühmtesten Plätze überhaupt. Was können wir diesbezüglich von den Amerikanern
lernen?
Einiges. In Stanford – ein phantastischer Ort, der mich sehr geprägt hat – konnte
ich Geistesgrößen wie Karl Popper oder Spitzen meiner Fächer VWL, Ökonometrie und
Statistik persönlich erleben, wie Ken Arrow, James Tobin, Jim Heckman, Clive Granger,
Takeshi Amemiya, T.W. Anderson oder Bradley Efron, auch angehende weibliche Stars
wie Penny Goldberg, Hilary Hoynes oder Susan Athey, oder Menschen der Zeitgeschichte
wie Michail Gorbatschow und Helmut Schmidt. Eine solche intellektuelle Konzentration
und Offenheit erlebbar zu machen, da machen uns die amerikanischen Spitzenuniversitäten
einiges vor.
Und betreffend die Ausbildung?
Auch eine Menge. Als Diplom-Volkswirt mit einem Vordiplom in Mathematik war ich sehr
gut für eine Promotion vorbereitet, habe aber trotzdem im PhD-Programm in Stanford
noch extrem viel gelernt. Diese Programme bereiten in einem weit umfassenderen Maß
auf eine forschungsorientierte Promotion vor, als das damals in Deutschland der Fall
gewesen ist. Mit den neuen Doktorandenprogrammen in der VWL haben wir inzwischen zwar
wichtige Schritte in diese Richtung getan, sind aber nach meiner Einschätzung noch
weit entfernt von der breiten Exzellenz der Ausbildung, wie ich sie selbst in Stanford
erlebt habe.
Beeindruckt war ich auch von der Unkompliziertheit und Selbstverständlichkeit, mit
der ich als Nichtamerikaner in einem internationalen Jahrgang mit einem Ausländeranteil
von ca. 50 % in das Doktorandenprogramm aufgenommen und von der Universität ab dem
zweiten Jahr ohne Vorfestlegung auf einen Betreuer finanziert wurde. Als ich nach
Stanford ging, wollte ich Zeitreihenökonometriker und empirisch arbeitender Makroökonom
mit dem Fokus auf Arbeitsmärkte werden. Promoviert habe ich bei einem mikroökonometrisch
versierten Arbeitsökonomen zu einem methodischen Thema an der Schnittstelle zwischen
Zeitreihenökonometrie und Mikroökonometrie. Diese methodischen Kenntnisse habe ich
als empirischer Arbeitsmarktforscher später vielfach angewandt (siehe etwa Fitzenberger
1999; Fitzenberger et al. 2001 oder Fitzenberger et al. 2004) – aber prägend war vor
allem die Erfahrung, dass die Mikroökonometrie in Verbindung mit tollen Mikrodaten
der Schlüssel zum Erkenntnisgewinn in der empirischen Arbeitsmarktforschung war –
und immer noch ist. So selbstverständlich dies für das Fach auch in Deutschland heute
ist, so revolutionär war das für mich damals in den USA.
Und der Anfang Ihres Wegs dahin? War das Ziel Statistik geplant oder zufällig?
Durchaus geplant, mit einigen glücklichen Zufällen. Im Mathe-Leistungskurs in der
Schule hat mir im zweiten Halbjahr der 13. Klasse, als das Abitur schon gelaufen war,
der Statistikschwerpunkt am meisten Spaß gemacht. Und danach spielte Statistik in
meinem Studium in Konstanz eine große Rolle – schließlich studierte ich in der damaligen
Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und Statistik. Da war ich auch schon früh als
Tutor in die Statistikausbildung im Grundstudium eingebunden, dadurch habe ich extrem
viel gelernt. Und durch Gerd Ronning erhielt ich erste Einblicke in die Mikroökonometrie –
und in eine Vorabversion seines späteren Lehrbuchs zu diesem Thema (Ronning 1991).
Und im vierten Jahr meines VWL-Studiums habe ich begonnen, Mathematik bis zum Vordiplom
zu studieren, um u. a. die Methoden in Statistik und Ökonometrie wirklich zu verstehen.
Das hat mir in Stanford sehr geholfen. (Abb. 2).
Wo Sie dann eine eher methodische Dissertation geschrieben haben?
Ja, deren Kern wurde dann später im Journal of Econometrics publiziert (Fitzenberger
1998). Ausschlaggebend dafür war Takeshi Amemiya; er hat mir geraten, auch Kurse im
PhD-Programm in Statistik zu belegen und über diesen Weg einen Master in Statistics
unter Anrechnung meiner im VWL-Programm absolvierten Ökonometriekurse zu machen. Dieser
Rat war goldrichtig – und so hatte ich mit meiner Promotion auch gleich einen MSc
in Statistics. Das ist ein solides Fundament, auf dem ich mich über meine Karriere
methodisch immer wieder weiterentwickeln konnte, obwohl ich nach der Promotion eine
angewandte Ausrichtung als empirischer Arbeitsmarktforscher eingeschlagen habe …
… die Sie dann nach Nürnberg an die Spitze des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
geführt hat. Wie ordnet sich denn das IAB in den Chor der deutschen Sozial- und Wirtschaftsforschungsinstitute
ein?
Das IAB betreibt Arbeitsmarkt‑, Berufs- und Sozialpolitikforschung im Rahmen eines
im Sozialgesetzbuch II und III festgeschriebenen Auftrags. Es ist eine Dienststelle
der Bundesagentur für Arbeit (BA) und berät die BA und das Bundesministerium für Arbeit
und Soziales im Rahmen seines gesetzlichen Auftrags. Soweit ist es einem Ressortforschungsinstitut
vergleichbar. Gleichzeitig sind das IAB und seine Forscherinnen und Forscher aber
wissenschaftlich unabhängig und neben der Forschung auch in Datenproduktion und evidenzbasierter
Politikberatung tätig. Neben eigenständigen Datenerhebungen kann das IAB als ein Alleinstellungsmerkmal
durch seinen Zugang zu den Prozessdaten der BA einzigartige Datenbestände für die
Forschung erschließen. Diese sind dann über das Forschungsdatenzentrum der BA im IAB
(www.fdz.iab.de) für die externe Wissenschaft in datenschutzkonformer Weise zugänglich.
Als weiteres Alleinstellungsmerkmal hat das IAB durch die Einbindung in die BA auch
die Möglichkeit, Feldexperimente im Bereich der Arbeitsmarktpolitik durchzuführen.
Wegen seiner thematischen Festlegung und seines gesetzlichen Beratungsauftrags ist
das IAB mit den Leibniz-Instituten in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nicht
vergleichbar. Aber seine wissenschaftliche Freiheit, seine exzellenten Forschungserfolge,
wie zuletzt durch die Begutachtung durch den Wissenschaftsrat 2019 bestätigt, die
Tatsache, dass das IAB ein englischsprachiges, interdisziplinäres Doktorandenprogramm
(GradAB) zusammen mit der WiSo-Fakultät an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg
betreibt, seine intensiven Forschungskooperationen und seine Drittmittelerfolge weisen
das IAB als exzellente wissenschaftliche Forschungseinrichtung aus.
Haben Sie als Chef dieser Organisation, der wohl jedes Jahr Dutzende von Akademikern
neu anstellt, den Eindruck, dass die Statistikausbildung in Deutschland gut funktioniert?
Teils-teils. Einerseits hat es in den letzten Jahrzehnten in der statistischen Methodenausbildung
in der Soziologie und in der Volkswirtschaftslehre große Fortschritte gegeben. Unser
Nachwuchs bringt dementsprechend einen tollen Werkzeugkasten und Erfahrungsschatz
in der Anwendung moderner statistischer Methoden mit. Bei Studierenden der Wirtschaftswissenschaften
fehlen jedoch mehr als früher profunde Kenntnisse in der Wirtschaftsstatistik und
der amtlichen Statistik. In meiner Zeit als Habilitand haben mir mein Lehrer Wolfgang
Franz und mein Mentor Reinhard Hujer, beide in der Forschung und Politikberatung sehr
aktiv und erfolgreich, die Wichtigkeit von Kenntnissen in Wirtschaftsstatistik überzeugend
deutlich gemacht. Diese Kenntnisse sind im IAB – und auch in der BA, die Teil der
amtlichen Statistik ist – ganz zentral.
Die Statistik an den Hochschulen steht jedoch vor einem Dilemma – sie ist verstreut
über viele Disziplinen. Gleichzeitig ist es jedoch für die Entwicklung und Verbreitung
neuerer Methoden wichtig, dass das Fach in seiner ganzen Breite zusammenkommt und
zusammenwirkt, um über den Tellerrand der jeweiligen Anwendungsdisziplin hinauszusehen.
Hier kommt den Statistikstudiengängen – bspw. in Dortmund, München oder auch in Berlin,
wo ich mehrere Jahre die Koordination des Masters in Statistik innehatte – und der
Fakultät/der Fachgruppe in Statistik in Dortmund und München eine sehr wichtige Rolle
zu. (Abb. 3).
Das wird meine Kollegen und Kolleginnen in Dortmund freuen. Was sollte man denn Ihrer
Auffassung nach da anders machen?
Für das skizzierte Dilemma gibt es keine einfachen Lösungen. Einerseits ist es wichtig,
dass sich die Statistik als eigenständiges Fach definiert und die Möglichkeiten nutzt,
Fachgruppen oder Fakultäten mit eigenen Studiengängen zu bilden. In Zeiten von Data
Science und der Erschließung neuer Daten können hierfür Gelegenheitsfenster entstehen.
Andererseits ist die enge Kooperation mit den Anwendungswissenschaften extrem wichtig –
und statistische Grundkompetenzen sind in vielen Studiengängen eine berufsqualifizierende
Schlüsselkompetenz. Hier darf sich die Statistik nicht zurückziehen, das sage ich
gerade aus der Perspektive meiner Tätigkeit am IAB.
In den Anwendungsdisziplinen gibt es große Unterschiede in der Ausrichtung der im
weitesten Sinn der Statistik zuzurechnenden Professuren. In der Volkwirtschaftslehre
etwa ist es gängige Praxis, dass die Professuren einen Beitrag zur Methodenentwicklung
leisten, so dass sich Anwendungsdisziplin und Methodenentwicklung befruchten. Das
ist jedoch nicht überall der Standard. Wenn methodische statistische Grundlagenforschung
nicht innerhalb einer Anwendungsdisziplin stattfindet, dann fehlt eine entscheidende
Triebfeder, um den statistischen Instrumentenkasten, der für die jeweilige Disziplin
wichtig ist, weiterzuentwickeln.
Und die Datenakquise …
… darf natürlich ebenfalls nicht vernachlässigt werden. Eine große Stärke in der Methodenausbildung
im Bereich der quantitativen Sozialwissenschaften sehe ich darin, dass die Studierenden
wesentlich intensiver als in den Wirtschaftswissenschaften Kenntnisse zu den Themen
Datenentstehung und Datenerhebung, Stichprobenplanung und Survey-Statistik erwerben.
Vergleichbare Kenntnisse zu diesen Themen – oder praktisches Wissen zu den Grundlagen
der Wirtschafts- und Sozialstatistik (früher ein Standardthema in der Ausbildung zur
empirischen Wirtschaftsforschung, siehe das Lehrbuch von Hujer und Cremer 1978) –
vermisse ich gelegentlich bei Studierenden aus den Wirtschaftswissenschaften, die
ansonsten eine ausgezeichnete Ausbildung in theoretischer und/oder angewandter Ökonometrie
haben. Aber als Ökonom weiß man, dass man nicht alles haben kann.
Von der Ausbildung in das wahre Leben. Ich habe mehrfach die These vertreten (siehe
etwa Grohmann-Vorlesung, Krämer
2016
), dass unsere Wirtschaft jährlich netto mehrere 100.000 Arbeitskräfte aus dem Ausland
braucht. Was sagen Sie als Experte dazu?
Rein quantitativ stimme ich der These im Wesentlichen zu. Ohne Zuwanderung können
wir den Arbeitskräftebedarf unserer Wirtschaft nicht voll decken – und ohne Zuwanderung
ergäben sich auch dramatische Folgen für unser System der sozialen Sicherung. Bei
einer schrumpfenden Wirtschaft infolge von zunehmender Arbeitskräfteknappheit würden
die Steuereinnahmen zurückgehen und die Beitragszahlungen fehlen, die wir insbesondere
für die Rentenversicherung benötigen. Die Problematik ist schon in den Jahren 2020
und 2021 deutlich sichtbar geworden. Im beiden Jahren sank alterungsbedingt die Zahl
der Personen, die dem Arbeitsmarkt insgesamt zur Verfügung stehen, jährlich um 300.000
bis 350.000 Personen. Die Erwerbsbeteiligung im Inland, bspw. über die weiter zunehmende
Erwerbstätigkeit von Frauen, wuchs nach Rückgängen am Anfang der Covid-19-Pandemie
im Jahr 2021 um gut 100.000 Personen – und damit langsamer als im letzten Jahrzehnt.
Und die Immigration nach Deutschland ist in der Corona-Krise deutlich zurückgegangen,
so dass dem Arbeitsmarkt in Deutschland zwei Jahre in Folge weniger Arbeitskräfte
zur Verfügung standen. Schon im zweiten Halbjahr 2021 waren in einigen Bereichen wieder
Arbeitskräfteengpässe zu erkennen.
Der Demographie-Effekt dürfte im nächsten Jahrzehnt in jedem Jahr in der gleichen
Größenordnung liegen. In der Summe müssten daher 300.000 bis 400.000 Personen pro
Jahr mehr zuwandern als unser Land verlassen, um die Zahl der dem Arbeitsmarkt zur
Verfügung stehenden Personen konstant zu halten. In Folge der Covid-19-Pandemie ist
die Zuwanderung allerdings kurzfristig zurückgegangen und die Zuwanderungspotenziale
aus anderen EU-Ländern sind geringer als vor einigen Jahren, da auch dort vergleichbare
demographische Effekte wirken.
Sind wir auf dem richtigen Weg? Die Politik hat richtigerweise mit dem Berufsanerkennungsgesetz
und dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz die Hürden für die Einwanderung von vor allem
benötigten Fachkräften gesenkt und unterstützende Maßnahmen auf den Weg gebracht.
Das IAB wird evaluieren, ob das Fachkräfteeinwanderungsgesetz die intendierten Effekte
nach Ende der Corona-Krise zeigen wird.
Sie waren lange Jahre ein wichtiger Gutachter für die Deutsche Forschungsgemeinschaft.
Wie beurteilen Sie den Stellenwert dieser Organisation im deutschen Wissenschaftsgefüge?
Der ist sehr hoch einzuschätzen. Ich wurde zweimal in das Fachkollegium Wirtschaftswissenschaften
für das Gebiet Statistik und Ökonometrie gewählt, hatte also die Ehre, insgesamt acht
Jahre in diesem Gremium mitzuarbeiten, darunter zwei Jahre als stellvertretender Vorsitzender
und zwei Jahre als Vorsitzender. Für meine zweite Amtszeit war ich sowohl vom Verein
für Socialpolitik wie auch von der Deutschen Statistischen Gesellschaft (DStatG) als
Kandidat vorgeschlagen worden. Hierüber habe ich mich besonders gefreut – und danke
der DStatG für das mir entgegengebrachte Vertrauen. Besonders spannend und gleichzeitig
herausfordernd war es dabei für mich, angemessen die Fachspezifika und Fachkulturen
in einem Gremium zu berücksichtigen, in dem BWL, VWL, Wirtschafts- und Sozialgeschichte
und eben Statistik und Ökonometrie zusammen vertreten sind. Die Vertraulichkeit der
Beratungen verbietet mir, auf Einzelheiten einzugehen, aber die unterschiedlichen
Fachkulturen führten zu teilweise leicht unterschiedlichen Kriterien für die Förderentscheidungen
und zu leicht unterschiedlichen Einschätzungen der Sinnhaftigkeit einzelner Förderinstrumente.
Für das Gremium ist es daher wichtig, ein gemeinsames Verständnis für angemessene
und faire Förderentscheidungen zu entwickeln, die den Anträgen in ihrer Heterogenität
und den eingeholten Gutachten gerecht werden und die die Wirtschaftswissenschaften
insgesamt voranbringen. Die angemessenen Maßstäbe für Anträge an der Schnittstelle
verschiedener Fächer – sei es an der Schnittstelle Statistik und Mathematik oder an
der Schnittstelle zwischen Wirtschaftsgeschichte und Geschichtswissenschaft – stellten
hierbei eine Herausforderung dar, die das Fachkollegium nach meiner Einschätzung in
meinen zwei Amtsperioden gut gemeistert hat. Dabei haben wir uns gelegentlich und
nach ausführlicher Diskussion auch schon mal über den Mainstream in VWL und BWL hinweggesetzt.
(Abb. 4).
Irgendwelche Empfehlungen für Ihre Nachfolger?
Anders als bei den von der EU vergebenen ERC grants ist bei der DFG auch die Förderung
von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern ganz am Anfang ihrer Karriere
ein wichtiges Ziel. Die Bedeutung und Konzeption dieser Nachwuchsförderprogramme ist
aber dem Nachwuchs in Deutschland noch nicht hinreichend bekannt. Deshalb finde ich
es gut und wichtig, dass die DFG auf den Tagungen der Fachgesellschaften hierüber
informiert – hieran habe ich mich immer gerne beteiligt – und der Nachwuchs die Beratungsleistung
der DFG vor der Antragstellung nutzt. Das könnte man noch weiter intensivieren.
Von der DFG zur Forschung und zu den deutschen Universitäten allgemein. In einem kürzlichen
Interview mit Gerd Hansen (Krämer
2022
) haben sowohl ich als auch der Interviewte das geistige Klima an deutschen Universitäten
heutzutage kritisiert. Wie sehen Sie das denn?
Mit dem Begriff „geistiges Klima“ tue ich mir schwer. Speziell bei dem Begriff „Geist“
im Zusammenhang mit Universitäten erinnere ich mich an ein für mich unvergessliches
Radio-Interview mit Walter Jens. Walter Jens galt bekanntermaßen als streitbarer Geist
und scharfzüngiger Denker, dessen Ansichten ich nicht immer teilte, aber den ich sehr
schätzte. Auf die Frage hin, wie es passieren konnte, dass er im kleinen Tübingen
lehre und dort geblieben sei, antwortete Walter Jens u. a., dass ihn gleich als er
nach Tübingen gekommen sei, der „Geischt“ [schwäbisch für Geist] dort angesprochen
habe. Ich habe das so verstanden, dass er das „geistige Klima“, sprich die Form und
die Inhalte des akademischen Austausches, die Kommunikation in Universität und Stadtgesellschaft
und auch die Streitkultur im Tübingen der 1950er-Jahre geschätzt hat.
Lebt der von Walter Jens geschätzte Geist in Form rhetorisch geschliffener aber akademisch
gehaltvoller und respektvoller Kommunikation und Diskussion, die hart in der Sache
ist, an den deutschen Universitäten heute fort? Ich halte dies für ein schönes Ideal,
eine schöne Utopie, und schätze sehr, wenn ich dieses Ideal in Realität erlebe – wofür
es an deutschen Universitäten immer wieder schöne Beispiele gibt. Aber es wäre ein
zu hoher, elitärer Anspruch, um die Realität an deutschen Universitäten daran zu messen,
denn die Universitäten sind natürlich Teil der Gesellschaft, deren Verhaltensmuster
sich nicht unbedingt an humanistischen Bildungsidealen orientiert. Die Universitäten
spiegeln somit auch negative Entwicklungen in der Gesellschaft wider. Im großen Ganzen
garantieren sie in der öffentlichen Diskussion und in Auseinandersetzung über unterschiedliche
Meinungen ein hohes Maß an Freiheit und kritischem Diskurs, auch wenn dies nicht völlig
dem skizzierten Ideal entspricht. Ich schätze die Offenheit und das Engagement, mit
denen beispielsweise Studierende der Wirtschaftswissenschaften alternative Sichtweisen
in unser Lehrprogramm einbringen oder mit der sie sich für politische Forderungen
einsetzen, selbst wenn ich diese nicht teile. Dies ist an deutschen Universitäten
gut möglich, ohne dass der oder die Betreffende Nachteile befürchten muss.
Schockierend dagegen – und meinem Idealbild des geistigen Klimas an einer Universität
widersprechend – ist beleidigende oder respektlose Kommunikation, wie sie teilweise
in anonymer Form in sozialen Medien oder in Kommentarspalten im Internet vorkommt.
Dazu zähle ich anonyme, beleidigende Kritik an Lehrenden, wie ich sie leider viel
zu oft auf Bewertungsplattformen, Onlineforen oder in anonymen Lehrevaluationen für
meine Person oder Kolleginnen und Kollegen gelesen habe. Auch sexistische Äußerungen
über weibliche Lehrende sind hier zu beklagen. Keine Frage: Berechtigte Kritik und
kritische Diskussionen müssen sein – ich bin offen dafür und bewundere Studierende
und die Vertreterinnen und Vertreter anderer Statusgruppen an der Universität, wenn
sie offen Missstände ansprechen, ihre Einschätzungen einbringen und sich an Entscheidungsfindungsprozessen
beteiligen. Aber beleidigende und entwürdigende Kommunikation in Anonymität ist immer
unangemessen und einer Universität unwürdig – und ich vermisse einen höheren Schutz
der Adressaten dieser Kommunikation an den Universitäten, aber auch in der Gesellschaft
insgesamt.
Da sind wir ja schon zwei – gibt es etwas, das Sie dem neuen Vorsitzenden der DStatG
mit auf den Weg geben könnten?
Ich möchte meine Antwort als zwei Einschätzungen verstanden wissen, die ich zur Diskussion
stelle. Erstens, der aktuelle Hype im Bereich Data Science, Maschinellem Lernen, Künstliche
Intelligenz in Verbindung mit der Verfügbarkeit von neuen Datentypen ist eine große
Chance, das Fach Statistik zu stärken. Bei Anwendungen dieser Methoden in den Wirtschaftswissenschaften
ist eine dezidiert statistische und ökonometrische Perspektive sinnvoll und wichtig.
Zugespitzt formuliert heißt das: Die Frage der angemessenen statistischen Inferenz,
Messfehlerprobleme oder Selektionseffekte, um nur drei Beispiele zu nennen, verschwinden
mit den neuen Methoden nicht von selbst.
Zweitens, die DStatG stellt sich vielen wichtigen Aufgaben – das ist großartig, birgt
aber besondere Herausforderungen. Lassen Sie mich zwei davon nennen. Amtliche Statistik
und Wissenschaft/Lehre an den Universitäten kontinuierlich zusammenzubringen ist sehr
wichtig, gerade weil der Stellenwert der Vermittlung von Kenntnissen in der Wirtschafts-
und Sozialstatistik an den Universitäten höher sein sollte und weil die amtliche Statistik
von dem Austausch mit der Hochschulforschung profitiert. Eine Herausforderung entsteht
daraus, dass die amtliche Statistik größtenteils, wenn auch nicht ausschließlich (Beispiel:
Eurostat), national aufgestellt ist, während die Methodenforschung als Grundlagenforschung
durch und durch international ist.
Und Statistik ist in vielen Anwendungsdisziplinen vertreten, von denen die DStatG
nur einige repräsentiert. Die Herausforderung besteht darin, den Austausch im Fach
Statistik über die Anwendungsdisziplinen hinweg zu ermöglichen und zu organisieren.
Für beide Herausforderungen hat die DStatG funktionierende Lösungen gefunden, die
jedoch regelmäßig einer Überprüfung und Anpassung an sich verändernde Rahmenbedingungen
bedürfen.
Das ist ein schönes Schlusswort. Ich danke Ihnen für das Gespräch.