Die Funktion des Deutschen Ethikrats und seinem Vorläufer, dem Nationalen Ethikrat,
ist die Politikberatung im Zusammenhang mit normativen Konflikten auf dem Gebiet der
Lebenswissenschaften. Im Ethikratgesetz heißt es hierzu:
Der Deutsche Ethikrat verfolgt die ethischen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen,
medizinischen und rechtlichen Fragen sowie die voraussichtlichen Folgen für Individuum
und Gesellschaft, die sich im Zusammenhang mit der Forschung und den Entwicklungen
insbesondere auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften und ihrer Anwendung auf den Menschen
ergeben. (§ 2, Abs. 1 EthRG)
Gordian Ezazi (2015) weist darauf hin, dass es im Gesetzestext keine Hinweise gibt,
ob die Rangfolge der angeführten Aufgaben einer Hierarchisierung von Prioritäten entspricht.
Auch der Gegenstand der geforderten Beratungstätigkeit ist nicht genau definiert.
Zur Stellung des Deutschen Ethikrats im politischen Prozess gibt es unterschiedliche
Deutungen. Kathrin Braun (2013) untersucht den Deutschen Ethikrat aus einer machttheoretischen
Perspektive im Sinne von Foucault. Politische Ethikräte erscheinen ihr als eine politische
Technologie, durch die unentscheidbare politische Fragen politisch entscheidbar gemacht
werden sollen. Die inhaltlichen Stellungnahmen zu moralischen Konflikten sind für
den politischen Prozess aus ihrer Sicht jedoch weniger relevant. Wichtig erscheint
Braun vor allem, dass der Ethikrat stattfindet und durch seine spezifische Art des
Abwägens, Erwägens, Deliberierens und Evaluierens vorführt, wie im politischen Diskurs
zu sprechen ist.
In eine ähnliche Richtung geht auch die soziologische Perspektive von Barth et al.
(2017, S. 291f). In Anlehnung an Luhmann vermuten sie, dass im Rahmen des Ethikrats
eine Form der Rede eingeübt wird, die mit multiplen Systemreferenzen zu rechnen lernt.
Die Universalitätsansprüche unterschiedlicher Perspektiven werden im Ethikrat als
unterschiedliche Universalismen repräsentiert – ohne sie unter den Zwang eines einzelnen
guten Grundes und damit einer Entscheidung für eine bestimmte Perspektive zu zwingen.
Alexander Bogner (2011, 2014) untersucht Ethikräte aus einer mikropolitischen Perspektive.
Entgegen dem Anliegen der Theorie Kommunikativen Handeln von Habermas sei das Ziel
der Beratungsverfahren nicht, zu einem moraltheoretisch begründeten Konsens zu kommen.
Das Ergebnis der Beratungen sei, so Bogner, vielmehr ein begründeter Expertendissens.
Der Dissens ist jedoch kein Makel, sondern die geordneten Stellungnahmen bieten eine
Orientierung für politische Gewissensentscheidungen. Mithin tragen Ethikräte durch
ihre Stellungnahmen zu einem politischen Framing bei. Werden Konflikte als Wertkonflikte
gerahmt, so werden sie nach Bogner im politischen Diskurs anders verhandelt als etwa
Verteilungskonflikte oder Wissenskonflikte.
Während die zuvor genannten Autoren vor allem die „Througput-Legitimation“ des Ethikrats
im politischen Prozess betonen, geht es mir im Rahmen dieser Analyse um die konkrete
argumentative Qualität der Erzeugnisse des Deutschen Ethikrats im Zusammenhang mit
den normativen Stellungnahmen zur Covid-19 Pandemie. Aus einer argumentationstheoretischen
Perspektive ist anzunehmen, dass Mehrheitsentscheidungen, die auf der Grundlage von
durchdachten und begründeten Erwägungen getroffen werden, welche aus einer Vielzahl
von Perspektiven intersubjektiv nachvollziehbar sind, eine höhere Legitimation aufweisen,
als solche, die nur ein Ausdruck der Akkumulation unreflektierter Meinungen sind (vgl.
u. a. Rawls 1998). Auch wenn es für politische Entscheidungen keine übergeordnete
normative Basis gibt, von der aus sich allgemein verbindlich – und für alle Menschen
einsichtig – Konflikte rational auflösen lassen, besteht dennoch die Möglichkeit,
die Qualität von Argumenten in normativen Stellungnahmen formal zu beurteilen. Damit
die Stellungnahmen des Deutschen Ethikrats eine normative Orientierungsfunktion erfüllen,
müssen sie höheren formalen Ansprüchen genügen als Sprechakte im Rahmen von bloßen
Meinungsäußerungen. Das Modell von Stephen Toulmin (2003) ermöglicht die Qualität
von Argumenten auf der Grundlage ihrer strukturellen Eigenschaften zu beurteilen.
Wie verschiedene Autoren der Politischen Ethik und Politikberatung zeigen (u. a. Fischer
2006; Fishkin 1991; Bromell 2017), hängt die Qualität normativer Entscheidungen maßgeblich
von der Art und Weise ihrer Begründungen ab.
Der Deutsche Ethikrat hat sich seit Ausbruch der Covid-19 Pandemie (im Zeitraum von
Dezember 2019 bis Juli 2021) mit einer Stellungnahme und drei Ad-Hoc Empfehlungen
zu Wort gemeldet. Die umfangreichere Stellungnahme zu Immunitätsbescheinigungen erschien
im September 2020. Die erste Ad-Hoc Empfehlungen, in Zusammenarbeit mit der Leopoldina
und der STIKO, wurde im November 2020 veröffentlicht und thematisiert die Regelung
des Zugangs zu COVID-19-Impfstoffen. Die zwei weiteren Ad-Hoc Empfehlungen behandeln
normative Fragen im Zusammenhang mit sozialen Kontakten in der Langzeitpflege (Veröffentlichung
im Dezember 2020) und besonderen Regeln für Geimpfte (Veröffentlichung im Februar
2021).
Im Folgenden werde ich das Argumentationsmodell von Stephen Toulmin (2003) vorstellen
und exemplarisch erläutern. Anschließend überprüfe ich die formale Qualität der normativen
Stellungnahmen des Deutschen Ethikrats am Beispiel von zwei Publikationen. Die erste
Untersuchung betrifft die Stellungnahme zu Immunitätsbescheinigungen. Die zweite hier
untersuchte Publikation ist eine Ad-Hoc Stellungnahme und befasst sich mit der zentralen
Frage nach einer gerechten Impfreihenfolge. Letztere Publikation entstand in Zusammenarbeit
mit Mitgliedern der Ständigen Impfkommission und der Nationalen Akademie der Wissenschaften,
Leopoldina. Ich habe mich bewusst für diese beiden Publikation entschieden, weil hier
zentrale Fragen des Pandemie-Managements verhandelt werden. Die Stellungnahme zu einer
allgemeinen Impfpflicht habe ich hingegen nicht berücksichtigt, da diese Publikation
noch vor dem Ausbruch der Covid-19 Pandemie erarbeitet wurde. Nach der Evaluation
der normativen Stellungnahmen gemäß Toulmins (2003) Modell für formal robuste Argumente,
werde ich die Bedeutung der Ergebnisse für die Stellung ethischer Politikberatung
im politischen System reflektieren.
Argumentationsmodell von Stephen Toulmin
Klar und präzise normative Positionen darzulegen, zu erklären und auf Einwände konstruktiv
zu reagieren, hat mit politischen Verlautbarungen wie in TV-Talkshows nur wenig gemein.
Damit ein Expertendiskurs, der nicht selten in einem Expertendissens mündet, eine
Orientierungsfunktion im politischen und gesellschaftlichen Diskurs bieten kann, muss
sichergestellt sein, dass die argumentative Qualität von Argumenten über den medialen
„Politikersprech“ hinausgeht. In der medialen öffentlichen Arena haben die Sprecher
häufig gar keine Verständigungsabsicht, denn ihnen geht es vor allem darum, aus Stimmungen
Stimmen zu generieren (Neidhardt 1994). Robustes Argumentieren ist demgegenüber eine
Praxis, die das Ziel der intersubjektiven Verständigung anstrebt. Eine Verständigung
wird auch dann angestrebt, wenn keine normative Einigung erzielt werden kann. Strukturell
starke Argumente befördern intersubjektive Verständigung, lassen Rückfragen und Erläuterungen
zu, statt mittels Manipulation andere Perspektiven zu verdrängen oder umzupolen. Stephen
Toulmin (2003) präsentiert in seinem Argumentationsmodell eine Struktur, wie robuste
Argumente formal aufgebaut sind. Als Zutaten nennt er sechs Elemente. Diese Elemente
sind: claims (1), grounds (2), warrants (3), backing (4), modal qualifications (5)
und possible rebuttals (6). Im Folgenden erläutere ich, wie diese sechs Elemente zusammenwirken
(siehe hierzu auch Toulmin et al. 1979, S. 25ff):
Claims sind Aussagen, beziehungsweise Schlussfolgerungen, deren Richtigkeit wir im
Verlauf der Argumentation (im Verbund mit den anderen Elementen) zeigen wollen.
Grounds, beinhalten Tatsachenbehauptungen, auf denen Argumente aufbauen. Abhängig
vom konkreten Anwendungsbereich kann es sich bei diesen Informationen unter anderem
um Allgemeinwissen, eigene Erfahrungen, statistische Daten oder experimentelle Beobachtungen
handeln.
Warrants sind die Schlussregeln, die eine Verknüpfung zwischen den grounds und den
claims herstellen. In den Naturwissenschaften werden warrants als Naturgesetz formuliert,
während in der Moraltheorie warrants als verbindliche Normen, zum Beispiel in Gestalt
des kategorischen Imperativs, formuliert werden können.
Backing bezeichnet eine argumentative Stütze, durch die die Validität der warrants
abgesichert wird. In den Naturwissenschaften erfolgt die Autorisierung durch die in
experimentellen Testverfahren erhobenen Daten. In der Ethik kann die Autorisierung
von Schlussregeln zum Beispiel im Rahmen von Gedankenexperimenten erbracht werden.
Modal qualifiers, auch Operatoren genannt, beinhalten Angaben, unter welchen Bedingungen
die warrants (Schlussregeln) Geltung beanspruchen und/oder wie stark der angegebene
Kausalitätszusammenhang ist. Während die Eintrittswahrscheinlichkeit bei einigen Schlussfolgerungen
100 % beträgt, können für andere Kausalitätszusammenhänge nur probabilistische Aussagen
getroffen werden.
Possible rebuttals sind Ausnahmebedingungen, unter denen der Kausalitätszusammenhang
zwischen grounds und claims nicht zutrifft. Für eine robuste Argumentation müssen
kritische Einwände antizipiert und in der eigenen Argumentation reflektiert werden.
Abb. 1 gibt einen Überblick zum Zusammenwirken der besprochenen Elemente im Rahmen
von Toulmins Argumentationsmodell für formal robuste Argumente.
Formal robuste Argumente werden in der Regel mit einer Tatsachenbehauptung (ground)
eingeleitet, welche die für die eigene Schlussfolgerung notwenigen Daten enthält.
Die Tatsachenbehauptung ist mit einer Schlussregel (warrant) verknüpft. Beide Elemente
stellen einen Zusammenhang her und münden in einer Schlussfolgerung (claim). Die Schlussregel
(warrant) wird durch zusätzliche Informationen (backing) abgestützt, welche die Gültigkeit
der Schlussregel autorisieren. Zusätzlich zu diesen Kernelementen können modal qualifiers
angeben, unter welchen Bedingungen, und wie zuverlässig die Schlussregel Geltung beansprucht.
Darüber hinaus werden mögliche Gegenargumente (possible rebuttals) reflektiert und
mögliche Umstände genannt, unter denen die Argumentationskette zusammenbricht (Grundmann
2020). Am Beispiel eines Arguments zur Einführung einer Steuer auf gesundheitsschädliche
Lebensmittel aus den USA, werde ich den Aufbau formal robuster Argumente exemplarisch
erläutern (Tab. 1).
Ground
Die Amerikaner nehmen heute fast 20 % mehr Kalorien zu sich als in den frühen 1980er-Jahren.
Ein Großteil dieser Kalorien stammt von stark verarbeiteten fett- und zuckerreichen
Lebensmitteln. Hinzu kommt, dass verarbeitete Lebensmittel und Getränke häufig erschwinglicher
sind als Obst, Gemüse und Vollkornprodukte, die für eine gesunde Ernährung unabdingbar
sind
Claim
Eine Steuer auf ungesunde Lebensmittel kann dazu beitragen, das Problem der Fettleibigkeit
zu bekämpfen
Warrant
Die Kaufentscheidungen für Lebensmittel hängen maßgeblich von deren Kosten ab. Aus
diesem Grund kann eine Steuer auf ungesunde Lebensmittel eine steuernde Wirkung entfalten
Backing
Wie Steuern auf gesundheitsschädliche Produkte die öffentliche Gesundheit positiv
beeinflussen können, demonstriert das Beispiel der Einführung einer Tabaksteuer in
New York. Die Raucherquote sank dort nach der Einführung dieser Steuer um 12 Prozentpunkte
auf einen historischen Tiefpunkt. Die positiven Wirkungen von Tabaksteuern lassen
auf eine positive Wirkung einer „Junk-Food-Steuer“ schließen
Rebuttal
Ein Steuer auf ungesunde Lebensmittel kann Menschen aus einkommensschwachen Haushalten
zusätzlich belasten, da gesunde Lebensmittel in der Regel teurer sind und in armen
Gegenden vor Ort häufig weniger verfügbar. Zudem könnte gegen das Argument eingewandt
werden, dass der Konsum von Tabak eher der Wahl eines Lebensstils entspricht, als
es dies bei der Auswahl von Lebensmitteln der Fall ist
Qualifier
Gesunde Lebensmittel müssen für die Bevölkerung leistbar und vor Ort verfügbar sein,
da nur so eine positive Veränderung des Konsumverhaltens erwartbar ist. Aus diesem
Grund muss gewährleistet werden, dass eine gesunde Ernährung in allen Bezirken möglich
ist. Mit dem „Zuckerbrot“ subventionierter gesunder Lebensmittel und der „Peitsche“
einer Lebensmittelsteuer kann die Verbesserung der Öffentlichen Gesundheit dann vorangetrieben
werden
aDas Beispiel habe ich einer Übung des Schreibzentrums der Universität Richmond entnommen
(http://writing2.richmond.edu/writing/wweb/toulminexercise.html)
Die Stellungnahmen des Deutschen Ethikrats zu Immunitätsbescheinigungen in der Covid-19
Pandemie
Die Stellungnahme zu Immunitätsbescheinigungen in der Covid-19 Pandemie wurde im September
2020, als es noch keine am Markt zugelassenen Impfstoffe gab, veröffentlicht (Deutscher
Ethikrat 2020a). Die im Vergleich zu den Ad-Hoc Empfehlungen umfangreichere Stellungnahme
folgt weitgehend der wiederkehrenden Struktur für Stellungnahmen des Deutschen Ethikrats.
Stellungnahmen des Deutschen Ethikrats enthalten in der Regel folgende Komponenten
(vgl. Ezazi 2015; Grundmann 2020):
Der naturwissenschaftlich-medizinische Teil beinhaltet eine Zusammenfassung des aktuellen
wissenschaftlichen Sachstands. Die bereitgestellten Informationen enthalten Definitionen
von medizinischen Grundbergriffen, Erklärungen zu verschiedenen Forschungsansätzen
und Erläuterungen zu den zu diskutierenden medizinischen Verfahren.
Der rechtliche Teil definiert die relevanten Rechtsbegriffe und verweist auf das geltende
Recht. Darüber hinaus wird der Gesetzgeber auf mögliche rechtspolitische Implikationen
hingewiesen.
Der ethische Teil arbeitet die normativen Konfliktlinien heraus. Welche Werte gilt
es in der Reflexion zu berücksichtigen, beziehungsweise zwischen welchen Werten muss
eine Entscheidung getroffen werden? Am Ende dieses Teils werden politische Handlungsempfehlungen
gegeben. Diese können je nach Ergebnis der Beratungen unterschiedlich ausfallen: eine
einstimmige Empfehlung im Konsens oder abweichende Handlungsempfehlungen durch divergierende
Voten in Form von Mehrheits- und Minderheitsvotum. Die Ratsmitglieder haben zudem
die Option ein Sondervotum abzugeben.
Abweichend von der oben genannten Struktur enthält die Stellungnahme zu Immunitätsbescheinigungen
in der Covid-19 Pandemie keinen expliziten rechtlichen Teil. Nach dem naturwissenschaftlich-medizinischen
Teil folgen Abschnitte zu den normativen Positionen und ihren Empfehlungen. In der
Stellungnahme geht es um die Frage, ob es staatliche Immunitätsbescheinigung geben
sollte. Das heißt, sollen jene Menschen, welche die Covid-19 Infektion überstanden
und in ihrem Körper Antikörper gebildet haben, von den Eingriffen in ihre Freiheitsrechte
ausgenommen werden (Entzug der Freiheitsrechte durch Einschränkung der Versammlungsfreiheit,
Verpflichtung zum Tragen eines Mund-Nasenschutzes). Die Position A empfiehlt Maßnahmen,
die nach erfolgter Genesung im Rahmen von Immunitätsbescheinigungen die Rechtsbeeinträchtigungen
stufenweise aufheben und eventuell mit bestimmten Pflichten verbinden. Position B
kommt demgegenüber zu einer negativen Einschätzung und hält Immunitätsbescheinigungen
(und damit verbundene Aufhebungen von Beschränkungen) selbst dann für unverantwortbar,
wenn eine Immunität und Nichtinfektiosität von Genesenen zweifelsfrei und zuverlässig
nachweisbar ist. Im Folgenden überprüfe ich, ob die normativen Positionen A und B
gemäß des Argumentationsmodells von Toulmin als robuste Argumente gelten können.
Wie Tab. 2 zeigt, entspricht die Argumentationskette der normativen Position A vollumfänglich
den formalen Anforderungen robuster Argumentation nach Toulmin. Die Schlussregel,
das heißt die Aussage, dass der Legitimationsgrund für Freiheitsbeschränkungen entfällt,
sofern von Personen nachweislich kein Infektionsrisiko ausgeht, wird mit zusätzlichen
Argumenten gestützt. Mit der Freiheitsrückgewähr, so die Argumentation, sind Schadensbegrenzungen
im Sinne des Gemeinwohls verbunden. Für eine noch solidere Abstützung des Arguments
hätte auf konkrete Gesetztestexte, oder auf mögliche Urteile des Bundesverfassungsgerichts
verwiesen werden können, die eindeutig belegen, dass nicht individuelle Freiheitsbetätigungen,
sondern hoheitliche Freiheitsbeeinträchtigungen rechtfertigungsbedürftig sind. Positiv
ist zu erwähnen, dass mögliche Einwände gegen Immunitätsbescheinigungen (soziale Spaltungen
und Stigmatisierungen zwischen immunen und nicht-immunen Personen) in der Argumentation
adressiert werden. Die Kritikpunkte seitens der Gegner von Immunitätsbescheinigungen
werden im weiteren Verlauf in Zusammenhang mit möglichen Strategien zu deren Bewältigung
diskutiert. Ein Vorschlag lautet, dass mit der Wiedererlangung von Rechten auch Pflichten
für immune Personen einhergehen können. Verweise auf weiterführende Literatur verleihen
den Aussagen zusätzliches Gewicht. Allerdings besteht in diesem Punkt noch Verbesserungspotential.
Gibt es eventuell Studien, die empirisch belegen, dass es durch den staatlich verordneten
Lockdown zu einer Zunahme von häuslicher Gewalt kommt? Mit Verweis auf wissenschaftliche
Studien oder amtliche Zahlen würden solche Aussagen ihren spekulativen Charakter verlieren.
Ground
Die Darstellung der Faktenlage hinsichtlich des wissenschaftlichen Sachstands ist
identisch mit Position B. Allerdings werden verschiedene Aspekte unterschiedlich betont.
„Während Tests, die eine akute Infektion nachweisen (PCR- oder Antigentests), nur
eine Momentaufnahme der akut vorhandenen Viruskonzentration darstellen, spiegeln Antikörpertests
eine längerfristige Antwort des Immunsystems auf einen Erreger wider. Auch zurückliegende
Infektionen können so erkannt werden. Die Tests erfassen Antikörper, die eine erkrankte
Person im Laufe der auf die Infektion folgenden Wochen und Monate entwickelt und die
über Jahre im Blut nachweisbar sein können. Sollte künftig bekannt werden, dass eine
gewisse Konzentration bestimmter Antikörper ausreichend Schutz vor einer erneuten
Erkrankung an Covid-19 und der Ansteckung anderer Menschen verleiht, könnte sich ein
entsprechender Antikörpernachweis als Grundlage für eine etwaige Immunitätsbescheinigung
eignen“ (Deutscher Ethikrat 2020a, S. 14)
Claim
Infektionsschutzbedingte Grundrechtsbeschränkungen können im Rahmen einer Immunitätsbescheinigung
zurückgenommen werden, sofern sichergestellt ist, dass von der immunisierten Bevölkerung
keine Selbst- und Fremdgefährdung ausgeht. Zudem bieten Immunitätsbescheinigungen
die Chance, das Gemeinwohl zu steigern (Deutscher Ethikrat 2020a, S. 20)
Warrant
Maßnahmen zur Wiedererlangung individueller Freiheiten sind stattzugeben, sofern der
Gesundheitsschutz und die Pandemiebekämpfung gewährleistet sind und mit einer Steigerung
des Gemeinwohls gerechnet werden kann. „Ein solches Vorgehen entspräche der allgemeinen
rechtsstaatlichen Maßgabe, dass nicht individuelle Freiheitsbetätigungen, sondern
hoheitliche Freiheitsbeeinträchtigungen rechtfertigungsbedürftig sind. Wo der bisherige
Legitimationsgrund entfallen ist – etwa, weil von einer Person nachweislich kein Infektionsrisiko
mehr ausgeht –, darf eine Beschränkung deshalb grundsätzlich nicht aufrechterhalten
werden. Eine Rücknahme von Freiheitseinschränkungen ist daher nicht per se als diskriminierend
anzusehen. Der Nachweis einer Immunität und die daraus resultierende relative Nichtgefährdung
für sich und andere würde vorbehaltlich anderer für die Aufrechterhaltung der Maßnahme
sprechender Gründe prinzipiell eine Ungleichbehandlung rechtfertigen“ (Deutscher Ethikrat
2020a, S. 24)
Backing
„Mit dieser Freiheitsrückgewähr wären zugleich Schadensbegrenzungen verbunden. Die
infektionsschutzbedingten Maßnahmen führen seit ihrer Einführung zu erheblichen Beeinträchtigungen
für nahezu alle Mitglieder der Gesellschaft, in vielen Fällen und bei zunehmender
Dauer sogar mit schwerwiegenden Begleitschäden. Hierzu zählen nicht nur erhebliche
Einschränkungen elementarer persönlicher wie politischer Freiheitsrechte. Negative
Folgen entstehen auch in bildungsbezogener, psycho-sozialer, kultureller und wirtschaftlicher
Hinsicht. Selbst unmittelbar gesundheitsrelevante Begleitschäden sind in diesem Zusammenhang
zu beachten, beispielsweise aufgeschobene Operationen, nicht wahrgenommene ärztliche
Versorgung, medizinisch-therapeutische Unterversorgung von Personen, die etwa in Einrichtungen
der Alten- und Behindertenhilfe mit stärkeren Zugangsbeschränkungen leben, Isolation
und Vereinsamung allein lebender Personen im häuslichen Umfeld, stressinduzierte häusliche
Gewalt usw. Die gelegentlich bemühte Frontstellung zwischen Gesundheitsschutz auf
der einen und Wirtschaftsschutz auf der anderen Seite geht fehl, weil wirtschaftliche,
gesundheitliche und andere soziale Güter nicht getrennt voneinander betrachtet werden
können“ (Deutscher Ethikrat 2020a, S. 24f)
Rebuttal
Für einzelne Personen könnte die (Wieder‑)Erlangung von Freiheit im Rahmen von Immunitätsbescheinigungen
ein Anreiz sein, sich selbst zu infizieren, um die Vorteile von immunisierten Personen
zu erlangen. Durch Immunitätsbescheinigung könnte zudem die Bereitschaft zur Regelbeachtung
von Schutzmaßnahmen innerhalb der restlichen Bevölkerung sinken, da Immunität von
außen nicht erkennbar ist. Die Einführung von staatlichen Immunitätsbescheinigungen
könnte gegenüber nicht immunisierten Personen, etwa in prekären Beschäftigungsverhältnissen,
auch zu neuen Formen der Exklusion und Stigmatisierungen führen und soziale Spannungen
verstärken (Deutscher Ethikrat 2020a, S. 21ff.)
Qualifier
„Den erwähnten Risiken, wie etwa sozialer Ausgrenzung und einem Anreiz zur Selbstinfektion,
ist durch eine sorgfältige und kontextbezogene Prüfung der Auswahl rückgewährter Freiheitsrechte
vorzubeugen. Es kann gegebenenfalls auch in Betracht gezogen werden, mit der Ausstellung
einer Immunitätsbescheinigung bestimmte Pflichten zu verbinden“ (Deutscher Ethikrat
2020a, S. 24).
„Um der Gefahr der Selbstinfektion zu begegnen, müsste die Einführung von Immunitätsbescheinigungen
zudem mit einer bundesweiten Aufklärungsinitiative zu den Gefahren von Covid-19 verbunden
werden“ (Deutscher Ethikrat 2020a, S. 26)
In Tab. 3 führe ich die formale Argumentationsanalyse für die normative Position B
durch.
Ground
Die Darstellung der Faktenlage hinsichtlich des wissenschaftlichen Sachstands ist
identisch mit Position A, allerdings werden verschiedene Aspekte in den normativen
Positionen unterschiedlich betont: „Aktuell befindet sich eine Vielzahl frei zugänglicher
Antikörpertests auf dem Markt, die sich in ihrer Funktionsweise und Qualität sehr
stark unterscheiden und oftmals eine sehr hohe Unsicherheit aufweisen. Tests, die
keinen zuverlässigen Nachweis neutralisierender Antikörper liefern oder aufgrund mangelnder
Spezifität viele falsch-positive Ergebnisse erzielen, könnten Immunität suggerieren,
die in Wahrheit nicht vorhanden ist. Verhalten sich Personen mit einem falsch-positiven
oder anderweitig wenig aussagekräftigen Testergebnis nun so, als ob sie immun wären,
(…) setzen sie sich (und potenziell auch Menschen in ihrem Umfeld) einem erhöhten
Infektionsrisiko aus“ (Deutscher Ethikrat 2020a, S. 16f, vgl. S. 41)
Claim
Selbst „für den Fall, dass es künftig gesicherte Erkenntnisse über eine länger anhaltende
Immunität sowie hinreichend zuverlässige Tests zum Nachweis von Immunität und Nichtinfektiosität
geben sollte, sprechen gewichtige praktische, ethische und rechtliche Gründe gegen
die Einführung von staatlich kontrollierten Immunitätsbescheinigungen“ (Deutscher
Ethikrat 2020a, S. 38)
Warrant
„Es ist also nicht nur die unterschiedliche Bewertung des wissenschaftlichen Sachstandes,
sondern vor allem auch eine andere normative Grundierung, die dazu führt, dass Position A
und B zu einer unterschiedlichen Bewertung des Instruments Immunitätsbescheinigung
und folglich auch zu anderen Empfehlungen kommen“ (Deutscher Ethikrat 2020a, S. 38)
Backing
„Mit Blick auf Gerechtigkeitsfragen sind bei einer Koppelung von Rechten oder Pflichten
an den Status der Immunität ungerechte Verteilungen von Chancen, aber auch von Risiken,
Belastungen und Einschränkungen in zwei Richtungen möglich: Einerseits, wenn Personen
ohne Immunitätsbescheinigung Möglichkeiten verwehrt würden (zum Beispiel der Besuch
einer Ausbildungsstätte); andererseits, wenn Personen mit Immunitätsbescheinigung
für bestimmte Tätigkeiten besonders in die Pflicht genommen würden (zum Beispiel medizinisches
Personal, Reinigungskräfte, Verkaufspersonal, Personal in Kindertagesstätten oder
Schulen)“ (Deutscher Ethikrat 2020a, S. 40).
„Die (…) mit der Einführung einer freiheitsgewährleistenden Immunitätsbescheinigung
verbundenen Probleme stellen eine große Herausforderung für einen angemessenen Rechtsrahmen
dar, die kaum praktisch-politisch zu bewältigen ist (…). Das liegt zum einen an der
Dynamik demokratischer Entscheidungsprozesse, zum anderen aber auch an Partikularinteressen
derer, die von Immunitätsbescheinigungen profitieren würden. Zugleich sind diejenigen,
die von Gefahren und Nachteilen des Instruments betroffen wären, politisch weniger
stark repräsentiert. Dies betrifft beispielsweise notwendige gesetzliche Anpassungen
in Bezug auf Missbrauchsgefahren im privatwirtschaftlichen Kontext, hinsichtlich des
Datenschutzes sowie des Arbeitsrechts“ (Deutscher Ethikrat 2020a, S. 44f)
Rebuttal
Im Rahmen der Position A werden zahlreiche Gegenargumente, das heißt Argumente, die
für Immunitätsbescheinigungen sprechen, dargelegt. In der Begründung der normativen
Position B werden diese teilweise aufgegriffen: „Auch der Wunsch nach (Dienst‑)Planungssicherheit
durch Immunitätsbescheinigungen in Gesundheits- und Pflegebereichen oder in Schulen
und Kindertagesstätten ist zwar dem Grunde nach nachvollziehbar. Allerdings ist davon
auszugehen, dass in den Einrichtungen erheblicher Druck gegenüber dem Personal erzeugt
werden würde, sich einem Antikörpertest zu unterziehen, um eine Immunitätsbescheinigung
zu erhalten und damit Aufgaben mit einem höheren Risikopotenzial übernehmen zu können“
(Deutscher Ethikrat 2020a, S. 41). (…) „Zweifelsohne wäre die Kenntnis über eine Immunität
und Nichtinfektiosität für jede Person eine große Entlastung. Das gilt insbesondere
für diejenigen, die in ihrem Beruf oder in ihrem Alltag zwangsläufig einem besonderen
Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Wenn aber eine Immunitätsbescheinigung keine ausreichend
gesicherte Grundlage aufweist, würde sie diese Personen in einer gefährlichen Scheinsicherheit
wiegen und erhebliche Risiken für sie selbst und für andere bergen“ (Deutscher Ethikrat
2020a, S. 41)
Qualifier
„Sollten sich Antikörpertests in Zukunft wider Erwarten als hinreichend zuverlässig
erweisen, so sollten diese nur in streng definierten Einzelfällen zur individuellen
Rückgewähr von Freiheit oder zur Auferlegung besonderer Verpflichtungen genutzt werden
dürfen. Lediglich zugunsten besonders vulnerabler Gruppen, die etwa in Einrichtungen
der Alten- oder Behindertenhilfe erheblich unter den strengen Isolationsmaßnahmen
zu leiden haben, dürften nahe An- und Zugehörige, gegebenenfalls auch ehren- oder
hauptamtliche Angehörige begleitender externer Dienste (Seelsorger, Hospizdienste
usw.) auf der Grundlage gesicherter Kenntnis über ihre Immunität und Nichtinfektiosität
von bestimmten Auflagen befreit werden. Solche Maßnahmen machen allerdings keine staatliche
Immunitätsbescheinigung erforderlich, sondern ließen sich im Infektionsschutzgesetz
etwa durch eine Vorschrift verbindlich regeln, wonach Ärzte ermächtigt werden, für
diese Personengruppe auf der Basis entweder eines hinreichend und zuverlässigen aktuellen
PCR-Tests oder aber eines – gegebenenfalls in Zukunft zur Verfügung stehenden – hinreichend
zuverlässigen Antikörpertests, eine entsprechende Bescheinigung der – hochwahrscheinlichen –
Nichtinfektiosität auszustellen“ (Deutscher Ethikrat 2020a, S. 42)
Auch die Positionen B, die sich gegen Immunitätsbescheinigungen ausspricht, entspricht
in ihrem formalen Aufbau weitgehend einem robusten Argument nach Toulmin. Wie die
Autoren der Position B betonen, ist für die Begründung ihrer Bewertung nicht eine
unterschiedliche Bewertung des Sachstands maßgeblich, sondern eine von der Position A
abweichende normative Grundierung. Allerdings ist die normative Argumentationskette,
die in einer negativen Bewertung von Immunitätsbescheinigungen mündet, nur in Umrissen
zu erkennen. Als Schlussregeln werden ethische und rechtliche Probleme benannt. Als
ein ethisches Problem erscheint in dieser Perspektive die Ungleichbehandlung zwischen
immunen und nicht-immunen Menschen. Es bleibt jedoch offen, welcher Gerechtigkeitsgrundsatz
durch Immunitätsbescheinigungen genau verletzt wird und worauf sich die normative
Geltung dieses Grundsatzes stützt. Auch die angeführten rechtlichen Bedenken bleiben
sehr vage und lassen im Rahmen einer „Textbefragung“ keine weiteren Rückfragen zu.
Als Problem wird beispielsweise die Dynamik politischer Entscheidungsprozesse und
Partikularinteressen angeführt, welche sich, so die Autoren der Position B, im Gesetzgebungsprozess
kaum bewältigen ließen. Was damit genau gemeint ist und worauf sich diese Behauptung
stützt, bleibt unklar. Zudem wird, ohne einen argumentativen Zusammenhang herzustellen,
auf arbeitsrechtliche Bedenken und Probleme mit dem Datenschutz verwiesen. Auch hier
wird nicht genau begründet, warum Immunitätsbescheinigungen aus einer datenethischen
Perspektive problematisch sind. Die formalen Schwächen in der Argumentation treten
zudem durch die unzureichende Berücksichtigung von Gegenargumenten in Erscheinung.
So werden die Einwände der Position A in der Reflexion möglicher Ausnahmebedingungen
(rebuttals) kaum berücksichtigt. Die für Position A zentrale Schlussregel (warrant),
dass nicht individuelle Freiheitsbetätigungen, sondern hoheitliche Freiheitsbeeinträchtigungen
rechtfertigungsbedürftig sind, wird von den Vertretern der Position B gänzlich ignoriert.
Auf welches Recht und welche normative Grundlage sich demgegenüber die Position B
beruft, geht aus der Stellungnahme nicht hervor.
Über die formalen Defizite hinaus, könnte die Argumentation der Position B verbessert
werden, indem wichtige Aussagen mit Verweisen auf wissenschaftliche Quellen und mit
fundierten Daten belegt werden würden. So behaupten die Vertreter der Position B,
dass das Deutsche Gesundheitssystem mit der Ausstellung von Immunitätsbescheinigungen
überfordert werden könnte, so dass für erfolgversprechendere Maßnahmen des Pandemie-Managements,
wie beispielsweise eine verbesserte Versorgung mit Schutzkleidung und -masken in Pflegeheimen,
keine Mittel mehr bereitstünden (Deutscher Ethikrat 2020a, S. 44). Dass der größten
Volkswirtschaft Europas das Geld für Schutzbekleidung ausgeht, wenn im Zuge der Einführung
von Immunitätsbescheinigungen mehr Antikörpertests durchgeführt werden müssen, erscheint
in Anbetracht der Konjunkturprogramme in Milliardenhöhe als eher fragwürdig.
Gemeinsame Ad-Hoc Empfehlung zum Zugang zu Covid-19 Impfstoffen
Neben den umfassenderen Stellungnahmen veröffentlicht der Deutsche Ethikrat auch Ad-Hoc
Empfehlungen zu aktuellen politischen Debatten. Im Gegensatz zu den längeren Stellungnahmen
haben Ad-Hoc Empfehlungen einen begrenzten Umfang von nur wenigen DIN A4-Seiten. Der
inhaltliche Aufbau dieser Ad-hoc-Empfehlungen entspricht, wie Ezazi (2015, S. 87)
feststellt, „erkennbar jenem einer standardüblich publizierten Stellungnahme: Einer
thematischen Hinführung folgt die Wiedergabe des naturwissenschaftlichen Sachstandes,
die Erläuterung der rechtlichen Prämissen und zum Schluss eine einstimmig von den
Mitgliedern des Rates geteilte politischen Empfehlung“. Allerdings gibt es in den
Ad-hoc-Empfehlungen keinen ethischen Reflexionsteil, in dem normative Forderungen
ausführlich begründet werden. Wahrscheinlich wird dieser Teil als verzichtbar angesehen,
da konsensual verabschiedete Empfehlungen ausgesprochen werden. Abweichende Minderheits-
oder Sondervoten werden allenfalls angedeutet (ebenda, S. 88). In Tab. 4 führe ich
die formale Argumentationsanalyse am Beispiel der Ad-Hoc Empfehlung zur Verteilung
von Impfstoffen durch.
Ground
„Anfängliche Knappheit von COVID-19-Impfstoffen erfordert Auswahlentscheidungen darüber,
wer zuerst geimpft werden soll. Priorisierungsentscheidungen berühren ethisch wie
rechtlich elementare Fragen, insbesondere des Gesundheits- und Lebensschutzes jedes
Einzelnen sowie der Gerechtigkeit und der Solidarität zwischen allen betroffenen Mitgliedern
einer Gesellschaft“ (Deutscher Ethikrat 2020b, S. 2)
Claim
„Leitend für die künftige detaillierte Empfehlung einer Priorisierung sind die (…)
ausgeführten ethischen und rechtlichen Prinzipien sowie folgende konkrete Impfziele:
• Verhinderung schwerer COVID-19-Verläufe (Hospitalisation) und Todesfälle
• Schutz von Personen mit besonders hohem arbeitsbedingten SARS-CoV-2-Expositionsrisiko
(berufliche Indikation)
• Verhinderung von Transmission sowie Schutz in Umgebungen mit hohem Anteil vulnerabler
Personen und in solchen mit hohem Ausbruchspotenzial
• Aufrechterhaltung staatlicher Funktionen und des öffentlichen Lebens“
„Infolgedessen sind diejenigen prioritär zu impfen, die bei einer Erkrankung an COVID-19
das höchste Risiko für Tod und schwere Erkrankung tragen“ (Deutscher Ethikrat 2020b,
S. 3)
Warrant
„Den Ausgangspunkt bildet die Selbstbestimmung (‚Autonomie‘) jedes Einzelnen. Impfungen
setzen prinzipiell eine aufgeklärte, freiwillige Zustimmung voraus“ (Deutscher Ethikrat
2020b, S. 2).
„Zugleich ist der ethische Grundsatz der Nichtschädigung bzw. des Integritätsschutzes
berührt. Alle Priorisierungsentscheidungen müssen sich daran messen lassen, ob sie
schwere Schädigungen verhindern helfen – Schäden, denen mittels Selbstschutz der zu
impfenden Personen durch Immunität vorgebeugt werden kann, aber auch Schäden, die
aus einem mangelnden Fremdschutz für andere resultieren und deshalb durch eine Unterbindung
der Transmission von Krankheitserregern abgewendet werden können“ (ebenda, S. 2).
„Demgegenüber muss der ethische Grundsatz der Wohltätigkeit, insbesondere im Sinne
der individuellen ärztlichen Fürsorgepflicht bei Priorisierungsentscheidungen im Konfliktfalle
zurücktreten. Üblicherweise sieht sich die Medizin in der Pflicht, das Wohl ihrer
Patient*innen bestmöglich zu fördern. Bei starker Knappheit von geeigneten Mitteln
ist das kaum möglich. Hier geht es um die ausreichende Basisversorgung möglichst vieler
und nicht um die maximale Bestversorgung einiger weniger“ (ebenda, S. 2).
„Von zentraler Bedeutung für Priorisierungsentscheidungen sind der ethische Grundsatz
der Gerechtigkeit und die grundlegende Rechtsgleichheit. Sie verbieten nicht nur bestimmte
inakzeptable Differenzierungskriterien, sondern verlangen im Grundsatz, (wesentlich)
Gleiche gleich und (wesentlich) Ungleiche ungleich zu behandeln. Gleiche Gefährdungslage
begründet deshalb gleichen Versorgungsanspruch. Umgekehrt gilt: Ungleiche Gefährdungslage
rechtfertigt und erfordert ungleiche Versorgung“ (ebenda, S. 2).
„Dieser Gerechtigkeitsaspekt ist eng verknüpft mit dem ethischen Grundsatz der Solidarität:
Solidarbereite Personen zeigen Verantwortung gegenüber stärker gefährdeten Personen
und stellen dafür den eigenen Anspruch auf ihren raschen Gesundheitsschutz – zumindest
zeitweilig – zurück“ (ebenda, S. 2)
Backing
Keine Berücksichtigung
Rebuttal
Keine Berücksichtigung
Qualifier
„Ethisch und rechtlich zulässige Priorisierungsentscheidungen müssen zudem formalen
und prozeduralen Mindestanforderungen genügen. Sie müssen auf der aktuellen und kontinuierlich
aktualisierten medizinisch-naturwissenschaftlichen Faktenlage basieren; sie müssen
sowohl verfassungskonform wie unter Anwendung der skizzierten ethischen Grundsätze
überzeugend begründet sein, und sie müssen unter Einbeziehung aller relevanten Betroffenen
weitest möglich konsentiert, in transparenten Verfahren öffentlich kommuniziert und
gesetzlich abgesichert sein“ (Deutscher Ethikrat 2020b, S. 3)
Die Ad-Hoc Empfehlung zur Verteilung von Impfstoffen erschien im Rahmen eines gemeinsamen
Positionspapiers, erarbeitet in Zusammenarbeit mit der Ständigen Impfkommission des
Robert Koch-Instituts und die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Ziel
der Verfasser ist es, zu klären wie der Zugang zu COVID-19-Impfstoffen auf ethisch,
rechtlich und praktisch sinnvolle Weise geregelt werden kann. Wie für Ad-Hoc Empfehlungen
typisch fehlt ein normativer Reflexionsteil. Mithin drückt die normative Forderung
diejenigen prioritär zu impfen, die bei einer Erkrankung an COVID-19 das höchste Risiko
für Tod und schwere Erkrankung tragen, eine Konsensposition der beteiligten Organisationen
aus. Der Verzicht auf einen normativen Reflexionsteil schlägt sich auch auf die formale
Argumentationsstruktur nieder. Die formalen Kriterien für robuste Argumente nach Toulmin
werden nicht erfüllt. Durch den Verzicht ethischen Abwägens werden weder mögliche
Gegenargumente (rebuttals) berücksichtigt, noch werden Gründe genannt, welche die
normativen Schlussregeln begründen (backing). Als Informationsgrundlage für Gewissensentscheidungen
der politischen Entscheidungsträger ist dieses Dokument daher nur bedingt geeignet.
Wenn vom Ethikrat eine legitimierende Funktion für politische Willensbildungsprozesse
im Sinne der Diskurstheorie von Habermas (1991, 1992) ausgehen soll, dann ist die
Legitimation durch die Autorität der beteiligen Organisationen und ihrer Mitglieder
(Deutscher Ethikrat, Leopoldina, Ständigen Impfkommission des Robert Koch-Instituts)
für sich genommen keine hinreichende Grundlage ethischer Politikberatung. Autorität
beansprucht in der Diskurstheorie nur das überzeugendere Argument, unabhängig von
wem es formuliert wird. Arbeiten ethische Gremien jedoch im Sinn einer „Black Box“,
dann entspricht dies nicht dem Modell einer aufgeklärten Gesellschaft, sondern eher
dem Modell obrigkeitsstaatlichen Denkens. Zur Verteidigung des Deutschen Ethikrats
lässt sich jedoch anführen, dass es am 18. November 2020 eine Online-Veranstaltung
mit dem Titel „Wer zuerst? Verteilung von Impfstoffen gegen SARS-CoV-2“ gab. Die Veranstaltung
bestand aus drei Vorträgen und einer Podiumsdiskussion. Der Vortrag von Alena Buyx,
Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, gibt weitestgehend den Stand der Ad-Hoc Empfehlung
wieder. Im Vortrag von Mariângela Simão, stellvertretende WHO-Generaldirektorin für
Arzneimittel und Gesundheitsprodukte, geht es primär um die Verteilung der Impfstoffe
aus einer globalen Perspektive. Der Vortrag von Christiane Woopen, Vorsitzende der
European Group on Ethics in Science and New Technologies, diskutiert in ihrem Vortrag
fünf Ansätze zur Impfstoffverteilung: (1) Lotterie, (2) Wer zuerst kommt, der mahlt
zuerst, (3) Soziale Rolle/Funktion in der Gesellschaft, (4) Utilitarismus, (5) Bedürftigkeitsorientierter
Ansatz. Durch die Kürze des Vortrags werden zentrale Aspekte apodiktisch abgehandelt.
Eine richtige Diskussion, in der die einzelnen normativen (Gegen‑)Position kritisch
gewürdigt und diskutiert werden, findet nur im Ansatz statt. Hier ein Beispiel aus
dem Vortrag von Woopen:
Wir könnten auch danach streben, die Vorteile, den Nutzen zu maximieren. Bei einem
utiliaristischen Ansatz nutzt man als Grundlage vor allem die Anzahl von geretteten
Leben, es sollen also so viele Menschen wie möglich geschützt werden. Man kann auch
konkreter vorgehen und sagen: so viele Lebensjahre wie möglich. Damit hätten die Jüngeren
eine größere Chance, als Erste dranzukommen. Es wird oft kritisiert, dass ein solcher
utilitaristischer Ansatz die Menschenwürde verletzt. Jeder Mensch hat den gleichen
Wert, und dreißig Leben oder Lebensjahre zu retten ist nicht ethisch besser als drei.
Wenn in einer Pandemie diejenigen mit prioritärem Status, die also ein besonders hohes
Risiko haben, dass sie schwer erkranken oder sterben, dann heißt das nicht, dass sie
wertvoller sind als andere. Es wird nur die Tatsache anerkannt, dass andere warten
können. (Woopen 2020, S. 8)
Nach Woopen ist eine utilitaristische Verteilung des Impfstoffs unmoralisch, weil
dreißig Lebensjahre zu retten nicht besser sei als das Leben eines alten Menschen
um drei Jahre zu verlängern. Jeder Mensch ist gleich viel wert. Aus einer gerechtigkeitsethischen
Perspektive kann dies durchaus hinterfragt werden. Diejenigen, die durch eine vorzeitige
Impfung am meisten Lebensjahre gewinnen, haben tendenziell bislang am wenigsten lange
gelebt. Verdienen es die jungen Menschen nicht, dass ihr Leben zunächst gerettet wird,
weil sie bisher am wenigsten lange gelebt haben? Ist eine Lebensverlängerung hochbetagter
Personen, die nur noch im Bett dahinsiechen, wirklich äquivalent zum Dasein junger
Menschen, die ihr Leben mit all ihren Wünschen und Träumen noch vor sich haben?
Die Frage nach der Impfreihenfolge ist aus einer ethischen Perspektive mindestens
so komplex wie die normativen Konflikte im Zusammenhang mit der Ausstellung von Immunitätsbescheinigungen.
Die Ad-Hoc Empfehlung und ein hierzu abgehaltenes Online-Seminar (vgl. Woopen 2020)
werden den komplexen normativen Fragen im Zusammenhang mit der Impfreihenfolge nicht
gerecht, weil das Thema weder in der Tiefe noch in der Breite umfassen behandelt wird.
Im Beitrag „Vaccine distribution ethics: monotheism or polytheism?“ plädieren die
Autoren Alberto Giubilini, Julian Savulescu und Dominic Wilkinson (2020) für eine
offene ethische Debatte, die mehr Faktoren berücksichtigt als nur das Bedürftigkeitsprinzip,
wie es der Deutsche Ethikrat nahelegt. Selbst wenn man vom Prinzip der Bedürftigkeit
als zentralem Kriterium zur Impfstoffverteilung ausgeht, greifen die vorgelegten Analysen
zu kurz, da die Anzahl der Todesfälle von vielen Faktoren bestimmt wird, die eine
Betrachtung jenseits des bloßen Infektionsrisikos erfordert. Wie wahrscheinlich ist
es zum Beispiel, dass verschiedene Gruppen das Virus verbreiten? Wie wirksam ist ein
Impfstoff bei verschiedenen Gruppen? Wie wirksam ist ein Impfstoff bei der Verhinderung
einer Ansteckung im Vergleich zur Verhinderung, dass Einzelpersonen erkranken?
Die normative Frage bei der Impfstoffverteilung lautet nicht, ob wir diskriminieren
sollten, sondern ob die Grundlage der Diskriminierung ethisch vertretbar ist. Da es
sich hier um Gewissensentscheidungen handelt, für die es oft keine eindeutige normative
Basis gibt, wäre es aus einer demokratietheoretischen Perspektive wünschenswert, wenn
die Pluralität an Weltanschauungen in den Erörterungen des Deutschen Ethikrats umfassend
berücksichtigt würde.
Resümee
Der Deutsche Ethikrat hat die Ressourcen, um im Rahmen von wissenschaftlichen, rechtlichen
und ethischen Expertisen Impulse für den politischen Willensbildungsprozess zu geben.
Dies setzt jedoch voraus, dass dieses Gremium jedem Verdacht erhaben ist, parteiisch
zugunsten bestimmter Position Stellung zu beziehen. Gerade für normative Stellungnahmen
ist der Grat zwischen ethischer Beratung und politischem Aktivismus ein enger. Weder
politischer Aktivismus im Sinne einer einseitigen politischen Beeinflussung politischer
Entscheidungsträger, noch die Instrumentalisierung der Ethik als Propagandainstrument
sind mit dem Mandat des Deutschen Ethikrats vereinbar. Gegen den Vorwurf unzulässiger
Einflussnahme kann sich der Ethikrat vor allem durch zwei Maßnahmen absichern. Zum
einen indem er die Pluralität normativer Perspektiven in der Gesellschaft intern abbildet,
zum anderen, indem er normative Positionen intersubjektiv nachprüfbar und möglichst
umfassend begründet. Letzteres war Gegenstand der Untersuchung in diesem Beitrag.
Der Argumentationsanalyse nach Toulmin hat gezeigt, dass hinsichtlich der formalen
Struktur der Stellungnahmen und Empfehlungen Verbesserungspotential besteht. Im Rahmen
der Stellungnahmen zu Immunitätsbescheinigungen hätten die Positionen noch stärker
auf wissenschaftliche Studien und gesetzliche Normen verweisen können, um so den Argumenten
ihren zum Teil spekulativen Charakter zu nehmen. Die normative Position, die sich
gegen Immunitätsbescheinigungen ausspricht, geht darüber hinaus nur unzureichend auf
die Argumente der Befürworter von Immunitätsbescheinigungen ein, um sie zu Gunsten
ihrer eigenen Position zu entkräften. Obwohl im Rahmen der Stellungnahme die formalen
Kriterien für robuste Argumente erfüllt werden, ist der Begründungszusammenhang nicht
immer in der Tiefe gegeben, sodass kritische Rückfragen auf der veröffentlichten Textgrundlage
nicht beantwortet werden können.
Im Rahmen der Ad-Hoc Empfehlung zur Impfreihenfolge wird, wie für dieses Publikationsformat
typisch, auf einen Reflexionsteil verzichtet. Der Verzicht mag den Autoren gerechtfertigt
erscheinen, da in diesem Format Konsenspositionen wiedergegeben werden. Durch den
Verzicht ethischer Reflexion werden die formalen Kriterien für robuste Argumentation
nach Toulmin (2003) jedoch verletzt. In der Konsequenz handelt es sich bei der Ad-Hoc
Empfehlung auch weniger um eine Argumentation, sondern eher um die Verlautbarung einer
Mehrheitsmeinung der beteiligten Institutionen und Autoren. Durch den Verzicht einer
ethischen Erörterung fällt es schwer zu ermessen, inwieweit dieses Dokument noch geeignet
ist, den Rezipienten (im Sinne einer Beratung) in die Lage zu versetzen, sich selbst
ein eigenes normatives Urteil zu den betreffenden Wertkonflikten zu bilden. Außerdem
gilt es zu bedenken, dass es den beteiligten Autoren durch das Konsensvotum vermutlich
nicht gelingt, die Vielfalt normativer Positionen in der Gesellschaft zu der behandelten
kontroversen Thematik zu repräsentieren. Der Beitrag von Giubilini et al. (2020) zeigt,
dass die Schlussregel, die Impfreihenfolge nach dem Prinzip der Bedürftigkeit zu regeln,
nicht unumstritten ist, wie es die Ad-Hoc Empfehlung suggeriert wird. In der Tat ist
die Frage nach der Impfreihenfolge normativ sehr komplex und das bestehende naturwissenschaftlich-technische
Wissen zur Covid-19 Pandemie lückenhaft. Statt einer Ad-Hoc Empfehlung, die wie eine
„black box“ erscheint, wäre es vielleicht angemessener gewesen, eine Art Reflexionshilfe
für politische Entscheidungsträger zu veröffentlichen. Die Reflexionshilfe hätte zunächst
einen Überblick über den rechtlichen und technisch-naturwissenschaftlichen Stand geben
und anschließend eine Art Checkliste mit Punkten bereitstellen können, die für die
weitere ethische Reflexion und Urteilsbildung berücksichtigt werden sollten.
Bieber (2013) warnt, dass ethische Beratungsorgane zur Legitimation von politisch
vorgefassten Entscheidungen instrumentalisiert werden können. Der vorliegende Beitrag
hat einige Schwachstellen in der formalen argumentativen Qualität in den Veröffentlichungen
des Deutschen Ethikrats zur Covid-19 Pandemie offengelegt. Aus meiner Sicht ist es
geboten, die Unabhängigkeit und Pluralität des Deutschen Ethikrat sicherzustellen
und mehr Ressourcen für die Qualitätssicherung von Stellungnahmen und Ad-Hoc Empfehlungen
aufzuwenden. Die diskursive Qualität ist die zentrale Legitimationsquelle von politik-
und gesellschaftsberatende Ethikkommissionen. Werden Zweifel an der Redlichkeit ethisch
beratender Institutionen laut, wie etwa im Falle des Abschlussberichts der Ethikkommission
Sichere Energieversorgung1, schadet dies nicht nur dem Ansehen ethischer Beratungsorgane,
sondern wirkt sich auch negativ auf das Vertrauen in die Demokratie und langfristig
auf die Stabilität des politischen Systems aus.